Woudhuysen

Energiewende: Deutsche Energiesklaven

First published by NovoArgumente, February 2014
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Aus der Perspektive des britischen Innovationsforschers James Woudhuysen erscheint die deutsche Energiewende, wie ein skurriler Akt der Selbstversklavung. Anstatt auf Energiefreiheit setzen die Deutschen auf romantische Autarkieillusionen und obsessives Energiesparen.

Obwohl England kein Teil der Euro-Zone ist und die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg langsam verblassen, herrscht in England nach wie vor reges Interesse an Deutschland. Gerade bei einem Thema ist die britische Öffentlichkeit voller Bewunderung: Deutschlands Energiewende.

Britische Umweltschützer sind der festen Überzeugung, dass der deutsche Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima Anfang 2011 ein Erfolg war. Es kam nicht zum befürchteten Anstieg der Energieimporte, lediglich zu niedrigeren Energieexporten. Der Energieverbrauch sei um 5,3 Prozent gesunken, die Energieeffizienz gestiegen, Energiepreise seien gefallen und die CO2-Emissionen ebenso. “Deutschland”, so behauptete ein Top-Korrespondent für das Massenblatt Guardian im Mai 2012, “hat seinen Atomausstieg seit 2002 geplant” und “nun gezeigt, dass er ohne Probleme bewältigt werden kann.” [1]

“Es stimmt, es gibt ‚Fragezeichen’ bei der Übertragung und Speicherung von Windenergie und ein Aufschlag für erneuerbare Energien hat die Energierechnung der durchschnittlichen Familie um 47 Prozent in nur zwei Jahren erhöht.”

Ein Jahr später schwärmt der Guardian noch immer von der deutschen Energiepolitik. Es gäbe zwar “Fragezeichen” hinsichtlich der Übertragung und Speicherung von Windenergie und durch Energieumlagen habe sich die jährliche Energierechnung einer Durchschnittsfamilie um 47 Prozent in nur zwei Jahren erhöht, so dass Deutschland inzwischen die zweithöchsten Energiepreise in Europa hat. Doch der Guardian zitiert unbeirrt den Vize-Präsidenten des Wuppertaler Instituts für Umwelt, Professor Dr. Manfred Fischedick: Die Rechnungen könnten wieder niedriger werden, wenn die Konsumenten auf ihren Energieverbrauch achten, denn dieser “ist vielen nicht bewusst”, und wenn “neue Formen von Anreizsystemen wie Öko-Steuern diskutiert” werden. [2]

Selbst wir Briten, die wir auf einer Insel leben, wissen, dass es in den letzten 30-40 Jahren große Anti-Atom-Kampagnen in Deutschland gegeben hat. Wir wissen vom Aufstieg der Grünen. Natürlich wissen wir auch, dass Deutschland nicht immun gegen die Rezession seit 2008 ist. Nach all dem und nach Fukushima und der folgenden Energiewende soll den Deutschen ihr Energieverbrauch “nicht bewusst” sein? Wie dumm sind die denn! Eine derartige Massenignoranz der Deutschen kann einen nur erstaunen.

Der Trumpf germanophiler Befürworter grüner Energie in Großbritannien ist Deutschlands “Prosumenten”-Modell – der Zustand der Gnade, demzufolge die Energieverbraucher ihre eigene Energie selbst produzieren. Mehr als 65 Prozent von Deutschlands kolossalem Output an Erneuerbaren, der bei etwa 20 Prozent der Stromerzeugung liegt, ist Gemeinschaftseigentum von privaten oder Agrarproduzenten. [3] Zumindest diese aufrechten Bürger müssten doch in der Lage sein, ihren Energieverbrauch bewusst nachvollziehen zu können?

Abkopplung vom Stromnetz als persönliche Befreiung

Der Begriff “Prosument” wurde erstmals 1980 von einem amerikanischen Futurologen namens Alvin Toffler verwendet. [4] Erst kürzlich erlebte der Begriff eine Renaissance, als die kleinbürgerliche Vision eines 3D-Druckers für jeden Haushalt populär wurde. [5] Was jedoch die Energiefrage angeht, so ist die Vorstellung erneuerbarer Energie bereits seit 1976 für die Kommentatoren attraktiv. [6] Heute favorisieren britische Umweltaktivisten das Konzept dezentralisierter, von privaten Versorgern betriebener Stromnetze, was sie als angeblich deutsche Errungenschaft feiern. In einem ansonsten recht ausgewogenen Artikel über deutsche Solarenergie bezieht sich die Website des Autors und Aktivisten Nick Rosen Off-Grid – mit dem Untertitel “Befreie dich selbst” – auf die in Deutschland bestehende “politische Struktur, mit starker kommunaler Energieversorgung”. Die “Energiepreise sinken weiterhin und der Bau von Solaranlagen nimmt zu. Indem die Energieproduktion dezentralisiert wird, könnte der Boom der Erneuerbaren dafür sorgen, dass mit der Energieindustrie das geschieht, was mit den Medien durch das Internet geschah: Die Macht könnte in die Hände des kleinen Mannes gelangen – und zwar immer dann, wenn einfach nur die Sonne rauskommt.” [7] Dabei muss man den Off-Grid-Machern zu Gute halten, dass sie den zeitweise diskontinuierlichen Charakter von Solar- und Windenergie durchaus registrieren und bemerken, dass “bis Wissenschaftler einen Weg finden, Energie in großem Maßstab zu speichern, Kohle- und Atomkraftwerke – die man eben nicht beliebig ab- und anschalten kann – in Betrieb gehalten werden müssen, um eine Stromversorgung auch dann zu gewährleisten, wenn die Sonne nicht scheint.”

Also hängt die unkonventionelle Energie von konventioneller Energie ab – von Kohlekraftwerken, Nuklearreaktoren und zentralisierten Energienetzen. Angesichts der Funktionsweise der Energiebranche in einer globalisierten Weltwirtschaft werden erneuerbare Energien sogar im föderalen Deutschland gewiss nicht nur auf nationale Arbeitsteilung, sondern auch auf internationale Arbeitsteilung setzen müssen. [8] Aber nehmen wir einmal an, trotz der Innovationskrise der westlichen Energieindustrie wird die Speicherung von Solar- und Windenergie im großen Maßstab möglich. Hätten deutsche Haushalte dann eine echte Selbstversorgung und somit echte Freiheit erreicht?

“Es fällt kein Wort über die Kosten, über den Bau und die Sicherheitsstandards der für die Windenergie erforderlichen Infrastrukturen.”

Vielleicht. Der Guardian ist begeistert, dass östlich von Berlin in einem Dorf namens Feldheim mit 128 Einwohnern, das “inmitten von wogenden Roggenfeldern und idyllischen Wäldern liegt”, jetzt “alle ihren Strom aus einigen Solaranlagen, einem Biomasse-Kraftwerk und aus einer der 43 Windturbinen beziehen, die über die rings umliegenden Felder verteilt sind. [9] Aber Moment mal. Jede dieser Windturbinen ist 85 Meter hoch. Man liest nichts über die Kosten oder den Bau und die Sicherheitsstandards der für die Windenergie erforderlichen Infrastrukturen. Ebenso wenig liest man über die Folgen für das bestehende Stromnetz oder über das Vorhandensein lokaler Energiespeicher (entfernte Speicher würden Übertragungsverluste mit sich bringen, was Umweltschützer nicht gutheißen können). Auch kein Wort über Säuberung, Instandhaltung, Reparatur, Entsorgung und Ersetzung von Turbinen, Baustoffen, Anlagen und Kompostierungsmaschinen – wer erledigt all diese Arbeit?

Das hat nichts mit “Frei”-Sein zu tun. Entweder eignen sich die Feldheimer das notwendige Fachwissen und die Fertigkeiten an; oder Ingenieure von außerhalb erledigen diese Arbeit. So oder so, wenn auch noch ausgeprägter in der Do-It-Yourself-Variante, wird die lokale, grüne Energieversorgung – wie immer – arbeitsintensiv. Es stellt sich also heraus, dass die mutmaßliche Freiheit der netzunabhängigen Erneuerbaren ihren Preis hat.

Der Zusammenhang von Energie und Freiheit

Leider bleibt es Klimaskeptikern [10] und der mehr oder minder offiziellen grünen Öffentlichkeitsarbeit überlassen [11], auf die ökonomischen Risiken der Energiewende aufmerksam zu machen. Ich werde die Details an dieser Stelle nicht noch einmal durchspielen, die deutsche Leserschaft wird über aktuelle und zukünftige Entwicklungen hinsichtlich der Versorgungskapazitäten, Energiepreise und Subventionen besser informiert sein als ich. Dennoch sollte man folgende Tabelle zur Innovationskraft Deutschlands in Sachen Energie zur Kenntnis zu nehmen. Sie basiert auf Daten, die von der Internationalen Energieagentur zusammengetragen wurden:

1980 1990 2000 2009 2012
Atomenergie 1078 337 164 219 220
Fossile Energie 249 93 10 33 32.5
Erneuerbare Energie 111,5 104 82 187 240
Energieeffizienz 81 18 10 104 137
Andere Strom- & Speicher-Technologien 69 9 24 19 46
Elektrische Übertragung & Verteilung 1,7 1,8 2,3 0,25 8,6
Gesamt 1590 563 292 562 684

Tabelle 1. Deutschlands staatliche Budgets für Energieforschung und -entwicklung im Zeitraum 1980-2012 in konstanten Mio. € nach dem Stand von 2012. [12]
Aus der Tabelle lassen sich folgende Entwicklungen ablesen: 1. bleiben die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) im Energiesektor insgesamt signifikant hinter dem Level von 1980 zurück. 2. gelingt es Deutschland nicht, mit dem Zuwachs an F&E im Bereich erneuerbarer Energien und Energieeffizienz (hauptsächlich in der Gebäudedämmung) den beachtlichen Rückgang der F&E im Bereich der fossilen Energie und der Nuklearenergie zu kompensieren – ein deutlicher Indikator für den “Erfolg” grüner Politik und staatlicher Regulierung. 3. fließt mehr als ein Drittel des F&E-Budgets für grüne Energietechnologie in die Energieeffizienz und nicht in die Energieversorgung. 4. gibt es, genau wie bei den fossilen Brennstoffen, kaum F&E in den Bereichen der Übertragungs- und Speichertechnologien, die die Nutzung von Windkraft unterstützen würden.

“Es gelingt in Deutschland nicht, mit dem Zuwachs an F&E im Bereich erneuerbarer Energien und Energieeffizienz den beachtlichen Rückgang der F&E im Bereich der fossilen Energie und der Nuklearenergie zu kompensieren.”

Forschung und Entwicklung in Deutschlands Energiesektor stagnieren also bestenfalls. Überträgt man nun die Prämisse des auch in England nicht unbekannten Philosophen Karl Marx, der zufolge Armut ohne eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte nicht zu überwinden ist, auf die Frage der Energieversorgung im Land der Dichter und Denker, so kann man davon ausgehen, dass übermäßig hoher Energierechnungen wohl auch in Zukunft ein Problem sein werden. Unter Vermeidung aller Ostalgie verzichten wir aber auf marxistische Prämissen und gehen vielmehr von Folgendem aus: Seit der Gründung der deutschen Edison-Gesellschaft im Jahr 1883, aus der die AEG hervorgehen sollte, und dem schlesischen Energietechnikgenie Charles Proteus Steinmetz (1865–1923) [13] war Deutschland geschichtlich betrachtet immer ein Vorreiter für Innovationen im Energiesektor. Doch im Jahr 2000 haben die Deutschen nicht mal das Drittel einer Milliarde Euro in F&E im Bereich Energie gesteckt – auch die aktuelle Investitionen in die “Erneuerbaren” muten angesichts der damit verbundenen Heilserwartungen geradezu lächerlich an. Die Stimmung geht mittlerweile in Richtung einer allgemeinen Angst vor Energie und Energieinnovation, besonders vor der nuklearen Variante, aber auch vor fossilen und sogar erneuerbaren Energien. Man betont Energieeffizienz anstelle von Energieversorgung und -speicherung oder der Bedeutung der Stromnetze. Man kümmert sich nicht um Energieexporte, sondern legt Wert auf “Wachstum und Finanzierung eigener”, erneuerbarer Energie – und sei sie noch so ineffizient.

Bei der Energiewende in Deutschland geht es vor allem um Abschottung. Was erreicht werden soll, ist Autarkie – und nicht Freiheit. Dennoch ist Deutschlands Verpflichtung auf erneuerbare Energien, selbst wenn sie auf technologischer Ebene eher statisch erscheint, aus britischer Perspektive auch irgendwie beeindruckend. Viele Deutsche scheinen dazu bereit zu sein, ihr ganzes Denken und Handeln auf geradezu sklavische Art und Weise mit dem Thema Energie zu verbinden.

Sicher, Deutschland wird es hinbekommen, dass in Eigenheimen, Arbeitsplätzen und öffentliche Einrichtungen nicht das Licht ausgeht und der öffentliche Nahverkehr weiterläuft. Doch, so wie die Dinge laufen, wird das nicht mehr durch Investition und Innovation in Energietechnologien erreicht, sondern allein durch die Anpassung breiter Bevölkerungsschichten an ein selbstbezogenes, repressives und ermüdendes Regime der Energieeffizienz und des Energiesparens. Echte Freiheit im Umgang mit Energie würde hingegen bedeuten, dass sich die meisten Deutschen die meiste Zeit nicht um Energiethemen scheren müssten, weil Versorgung, Speicherung und Leitungen soweit fortgeschritten wären, dass man kaum noch Arbeit in sie hineinstecken müsste. So würde Energie aus der kognitiven Landschaft getilgt und als Thema schließlich ganz verschwinden. Wenn die Deutschen einem wirklich zukunftsweisenden Ansatz in der Energieversorgung folgen würden, bräuchten sie nicht mehr permanent an ihren Energieverbrauch zu denken. Aber derzeit sind die Deutschen auf einem völlig anderen Weg. Sie werden künftig keineswegs frei sein, “morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben [und] nach dem Essen zu kritisieren”, wie es Karl Marx in Die deutsche Ideologie einst vorschwebte. [14] Stattdessen wollen viele Deutsche sich anscheinend lieber unablässig mit der Energiegewinnung, der Energieeinsparung und der Sorge um Energie beschäftigen – und zwar rund um die Uhr. Die Deutschen müssten sich vom Thema Energie befreien. Aber allem Anschein nach wollen sie wohl lieber Energiesklaven werden. Und die britischen Umweltschützer würden dem deutschen Beispiel liebend gerne folgen.

Dieser Artikel ist zuerst in der aktuellen Novo-Printausgabe (#116 – II/2013) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

Aus dem Englischen übersetzt von Michael Sprick

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Fred. F. Mueller: Energiewende: Durchwursteln bis zum Crash

Buchempfehlung

James Woudhuysen und Joe Kaplinsky: Energise: A Future for Energy InnovationJames Woudhuysen und Joe Kaplinsky: Energise: A Future for Energy Innovation, Beautiful Books Ltd, 575 S., 2009.

 

Günther Keil: Die Energiewende ist schon gescheitert, Tvr Medienverlag, 136 S., 2012.

Anmerkungen

1. Damian Carrington: “Busting the carbon and cost myths of Germany’s nuclear exit” in: The Guardian, 23.5.12, theguardian.com.

2. Tim Smedley: “Goodbye nuclear power: Germany’s renewable energy revolution” in: The Guardian, 10.5.13, theguardian.com.

3. Damian Carrington: “Germany’s renewable energy revolution leaves UK in the shade” in: The Guardian, 30.5.12, theguardian.com.

4. James Woudhuysen: “Exiled to Malibu” in: woudhuysen.com, 15.4.13.

5. James Woudhuysen: “3D printing: neither gimmick nor revolution” in: spiked-online.com, 12.3.13.

6. James Woudhuysen, Joe Kaplinsky: Energise! A future for energy innovation, Beautiful Books Limited, Chicago 2009, S. 361–65, 405f.

7. Techstar: “Power decentralised in Germany” in: off-grid.net, 2.6.13: Im Englischen werden die Begriffe “elektrische Energie” und “politische Macht” beide mit dem Wort “Power” ausgedrückt. In diesem Zusammenhang wird die gängige Interpretation einer Demokratisierung der Medien durch das Internet auf den Energiebereich übertragen. Aber bedeutet die lokal oder privat erzeugte erneuerbare Energie wirklich mehr Freiheit, so wie Self-Publishing etwa durch Twitter oder die Möglichkeit, sich Plastik-Gartenzwerge drucken zu können?

8. James Woudhuysen, Paul Seaman: “Energy independence: a misguided pipedream” in: spiked-online.com, 12.11.12.

9. Carrington, a.a.O., 30.5.12

10. Benny Peiser: “Europe Pulls The Plug On Its Green Future” in: thegwpf.org, 8.9.13.

11. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen: “Climate Change as a Security Risk” in: wbgu.de, 18.9.13.

12. International Energy Agency: Detailed Country RD&D Budgets, Germany, Energy Technology RD&D 2013 Edition, IEA Data Services, 2013. Der Ansatz dieser Tabelle und die anschließenden Themen folgen denen James Woudhuysens: “Innovation in Energy: Expressions of a Crisis, and some Ways Forward” in: Energy & Environment, Vol. 23, Nr. 6 & 7, 2012, multi-science.metapress.com.

13. Um 1900 entwickelte der in die USA emigrierte Steinmetz für General Electric ein neuartiges elektrochemisches Labor, das erstmals gänzlich von der Produktion abgetrennt war. Vgl. George Wise, Willis R Whitney: General Electric, and the Origins of US Industrial Research, Columbia University Press, Bognor Regis 1985.

14. Karl Marx, Die deutsche Ideologie, mlwerke.de.

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